Am vergangenen 9. November wurde an die friedliche Auflehnung der DDR-Bevölkerung gegen ihren marode gewordenen Staat erinnert. Unter dem Schutz der Kirchen hatte sich in Ostdeutschland eine intelligente Form des Widerstands entwickelt, die vom Regime lange unterschätzt wurde, bis die Massen von der Bewegung Besitz ergriffen und sie unter das Motto „Wir sind das Volk!“ stellten. Die Erinnerung daran tut Not in Zeiten, in denen, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck es ausgedrückt hat, die öffentliche Debatte oft verworren ist. Habecks Anliegen war es – wie er in seiner Rede zum Antisemitismus sagte – zu deren Entwirrung beizutragen. Und doch hat er diesem Anliegen mit seiner Rede einen Bärendienst erwiesen. Habeck sagte: „Der Satz ‚Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson‘ war nie eine Leerformel und er darf auch keine werden. Er sagt, dass die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist.“ Habeck ist ein begabter Redner, kein Hasardeur. Deshalb müssen wir seine Aussage ernst nehmen. Was steckt in diesen Worten?
Kurzschluss zwischen Volk und Staat
Gehen wir noch einmal zurück zu den Dissidenten in die DDR, 1989. Warum riefen sie „Wir sind das Volk!“ und nicht „Wir sind der Staat!“? Offenbar hatten die damaligen Protagonisten, als Montags-Demonstranten, ein Gespür für feine Unterschiede. Sie hatten es sich antrainiert in jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen, die unerbittlich sein konnten. Die Aussage „Wir sind der Staat“ hätten sie vermutlich als wirklichkeitsfern und töricht gebrandmarkt. Der DDR-Staat hatte Machtmittel, zu denen Waffen und Schießbefehle gehörten, von der Unterstützung durch die übermächtige Sowjetunion gar nicht zu reden. Wer den Staat als Fremdkörper, der dem Einzelnen drohend gegenüberstand, ignorierte, setzte sein Leben aufs Spiel. Ganz anders der Ruf „Wir sind das Volk!“ Dabei ging es um die Legitimationsgrundlage, über die kein Staat verfügt, weil sie ihn erst begründet. Die DDR wollte eine Republik für das Volk sein. Wenn aber das Volk gegen die Regierenden auf die Straße ging, drohte dem Staat – nicht dem Volk – der Kollaps. Schließlich konnte die Regierung, wie Brecht es vorausgesehen hatte, sich kein neues Volk wählen. Der Ruf war mutig, aber nicht übermütig. Weil er berechtigt war, konnte er nicht ins Lächerliche gezogen werden.
Was aber machte Habeck in seiner Rede? Er stellte einen Kurzschluss zwischen Volk und Staat her. Mit der falschen Einheit zwischen dem, was grundverschieden ist, überging er die Lehre, die aus der deutschen Wiedervereinigung zu ziehen ist: Staat und Volk stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Der Staat, ein Gefüge aus Verwaltungseinheiten, schuldet dem Volk Rechenschaft. Das Volk schuldet dem Staat gar nichts. Es wählt ihn nicht einmal. Das Volk wählt – jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland – Vertreter. Die sollen verhindern, dass der Staat, den sie aufbauen, damit der Laden läuft, sich allzu sehr verselbständigt. Der Abstand zwischen Volk und Staat ist ein Gebot der demokratischen Hygiene. Er verhindert absolutistische Antagonismen im Stil eines „L’État c’est moi“ ebenso wie sektiererisch-reichsbürgerliche Aneignungen oder die Émeute entfesselter Volkskräfte.
Ein Staatswesen braucht gute Verwalter
Habeck ist nicht naiv. Der Unterschied zwischen Souverän und Machtapparat ist ihm geläufig. Dass er beides miteinander kurzschließt, gibt dem Satz eine andere Sinnebene: Spricht der Minister im pluralis majestatis? Äußert er sich im Namen der Staatsverwaltung, deren Sprachrohr er sein will? Dann wäre mit „Wir als Staat“ in Wahrheit „Wir als Staatsdiener“ gemeint. Das wäre vereinbar mit seiner Rolle als Vizekanzler. Allerdings passt die Funktionärsebene nicht zum manifesten Sinn des Satzes. Die Solidarität mit Israel soll ja nicht auf Verwaltungsebene stattfinden, sondern aufs Gemeinwesen übergreifen. Auch wurde das Video auf der Internet-Seite des Bundeswirtschaftsministeriums veröffentlicht. Nichts deutet darauf hin, dass da der Vizekanzler für ein Staatswesen sprechen will, dessen Verwaltung er mitverantwortet. Die Aufnahme ist so eingestellt, dass es nach dem Menschen Habeck aussieht, der aus seiner Rolle als Amtsträger heraustritt oder durch sie hindurch spricht. Also doch das ‚Wir‘ als Staat? Will Habeck uns damit allesamt zu Funktionären machen, zu Staatshelferchen? Die Verwirrung ist damit nicht beendet. Im gleichen Satz postuliert Habeck die Sicherheit Israels als notwendig für den deutschen Staat. Diese Zuschreibung macht die Aussage vollends absurd. Fest steht: Die Solidarität mit Israel sollte eine Grundfeste deutscher Politik sein und bleiben. Aber heißt das, dass Israels Sicherheit „notwendig“ für den deutschen Staat ist? Wie soll man diese Aussage verstehen? Angenommen, Israelis fühlen sich angesichts des zunehmenden Terrors im Nahen Osten nicht mehr sicher in ihrem Land, riskieren wir dann mit ihrer Aufnahme in Deutschland die Existenz des deutschen Staates? Wenn es so sein sollte, wäre das nicht das Gegenteil dessen, was mit dem Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland erreicht werden soll?
Sicherlich wird Habeck nicht sagen wollen, die Existenz Israels sei in dem Sinne notwendig für Deutschland, dass der deutsche Staat überfordert wäre, wenn er seine einstmals florierenden jüdischen Gemeinden vergrößern würde, indem er israelische Exilanten aufnimmt. Aber was wollte Habeck stattdessen sagen? Hat er nicht nachgedacht, was seine Äußerung beinhaltet? Verwechselt Habeck seine Funktion mit der eines selbstverliebten Propheten oder hat er einen Tunnelblick? Die Antworten darauf kennen wir nicht. Aber es gibt zu denken, wenn jemand, der die Verwaltung der Bundesrepublik in Wirtschaftsfragen leiten soll, schwierige außen- und staatspolitische Grund- und Leitfragen beleuchten will, dabei aber die Verwirrung nur größer macht.
Die rechtspragmatische Perspektive: Kompetenz der Exekutive im Rahmen ihrer Befugnisse
Aus rechtspragmatischer Sicht ist etwas anderes notwendig für ein funktionierendes Staatswesen: Eine Verwaltung, die ihre Aufgaben im eigenen Zuständigkeitsbereich kompetent wahrnimmt. Warum das so wichtig ist, sieht man an Habecks Video: Wer sich in eine Angelegenheit einmischt, in der ihm die Zuständigkeit fehlt, tritt aus der Funktionärsperspektive heraus. Das ist nicht verboten. Ausnahmsweise kann es politisch sogar geboten sein. Aber es gibt dafür pragmatische Regeln. Zum einen: Der Funktionär, der nicht als solcher spricht, muss das deutlich machen. Zum zweiten: Er muss, wenn er sich als Bürger aus dem Fenster lehnt, überzeugende Argumente haben. Das Vermengen der funktionärsspezifischen und der zivilgesellschaftlichen Sphäre schadet sonst beiden Seiten. Das sehen wir bei Habecks Video: Hinter der fürsorglichen Fassade lugt ein desorientierter Funktionär hervor. Der Respekt vor einer Verwaltung, die weiß, was sie tut, schwindet auf diese Weise. Da helfen auch lobende Kommentare nicht, die in zahlreichen Medien im Nachgang zu Habecks Rede veröffentlicht wurden. Maßgeblich ist der Eindruck, der bleibt, wenn – was früher oder später geschehen wird – aufgeklärte Zeitgenossen die Aussagen Habecks nach ihrem Handlungssinn befragen.
Zu hoffen ist deshalb, dass die Verwirrung der Begriffe bald nachlässt. Falls nicht, wäre das für den deutschen Staat eine schlechte Nachricht. Kein Staat kann auf Dauer das Volk überzeugen, wenn er den Anschein erweckt, dass ihm eine Verwaltung fehlt, die weiß, was sie sagt und für wen sie spricht.