Der Begriff der ‚brauchbaren Illegalität‘ ist in der modernen Verwaltungs- und Organisationswissenschaft wieder in Mode gekommen. Erdacht von Niklas Luhmann, diente das Konzept zunächst als Beschreibung für ein ambivalentes Eigenleben, das Organisationen (Unternehmen, Verwaltungen, Vereine) entwickeln, um ihre volle Leistungsfähigkeit zu entfalten. In der modernen Organisationssoziologe bemüht sich aktuell Stefan Kühl um eine Reaktivierung des Konzepts. Doch sollten sich Unternehmensverantwortliche und Behördenleiter davor hüten, das Konzept 1:1 auf ihre Organisationen zu übertragen. Es drohen Realitätsverzerrung, Orientierungsverlust und Diffusion von Verantwortung.
Warum das so ist, wird im IfR-Thesenpapier 02/24, „Brauchbare Illegalität oder pragmatischer Regelgebrauch?“, erläutert, das unter info@institut-für-rechtspragmatik.com angefordert werden kann.
Hier die wichtigsten Thesen:
- Der explanative Gehalt des Konzepts der ‚brauchbaren Illegalität‘ ist unzureichend. Es ist nicht in der Lage, Handlungen im Graubereich aus Sicht sozialer Akteure zu erfassen. Gerade diese Graubereiche sind wichtig, weil sich in ihnen ein Handeln in Richtung Regelkonformität oder Regelbruch verschieben lässt.
- Bei dem Konzept der ‚brauchbaren Illegalität‘ bleibt offen, für wen eine Regelabweichung ‚brauchbar‘ sein soll. Die Idee verabsolutiert formale Erwartungen, die von einer Organisation aufgestellt werden, indem der Gehalt dieser Erwartungen als unhinterfragbar postuliert wird.
- Die Definition von ‚Illegalität‘ als Verhalten, das die formalen Erwartungen einer Organisation verletzt, geht an der sozialen Wirklichkeit vorbei. Es handelt sich um eine gewaltsame Begriffskonstruktion, mit der ein vorurteilsfreier, unverzerrter Blick auf die Empirie beim Umgang mit Regeln verunmöglicht wird.
- Durch die Schwächen seiner systemtheoretischen Einbettung verfehlt das Konzept der ‚brauchbaren Illegalität‘ den Erkenntnisgewinn, der möglich wäre, wenn gefragt würde, in welchem Verhältnis Regelkonformität und Regelabweichung zueinander stehen.
- Das Verhältnis zwischen Regelkonformität und Regelabweichung kann produktiv, destruktiv oder indifferent sein. Welche Ausprägung im Einzelfall vorliegt, lässt sich mit dem systemtheoretisch verankerten Konzept der ‚brauchbaren Illegalität‘ nicht erfassen. Anders verhält es sich, wenn die rechtspragmatische Perspektive eingenommen wird.
- Anhand der Beispiele ‚Amtsarztfall‘ und ‚Hamburgischer Oberbürgermeister‘ wird aufgezeigt, dass sich durch die Methodik handlungsbezogener Fallhypothesen mit den Mitteln der Rechtspragmatik rekonstruieren lässt, ob in der sozialen Praxis ein rollengerechter oder ein rollenverletzender Regelgebrauch stattfindet.